Wendejazz – Jazz in Dresden rund um die politische Wende 1989

Vorwort

… es ist gut, dass er der Stasimann ist …

Bis zu den Wendeereignissen waren auch Dresdner Kultureinrichtungen und kulturelle Aktivitäten Gegenstand der „Aufklärung“ durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR.

In den Leitungen bzw. Direktionen vieler damaliger Dresdner Einrichtungen waren Inoffizielle Mitarbeiter (IM) vertreten, so dass die Stasi stets gut über Vorgänge, Meinungen und Probleme informiert war. So wurden kurz vor der Wendezeit beispielsweise die Konzert- und Gastspieldirektion (IM „Helmut Vohs“), das Jugendklubhaus Scheune (IM Walja) und das Filmtheater Prager Straße (Rundkino – IM „Uwe Günter“) von Inoffiziellen Mitarbeitern geführt.

Ob dies auch für die IG Jazz bei der Kulturbundstadtorganisation Dresden (die schon damals lax Tonne genannt wurde) zutraf, ließ sich bisher nicht exakt recherchieren. Dass es aber im gewählten Leitungsgremium der IG Jazz mindestens einen IM gab, belegt folgende Passage eines Operativplans vom 25. Februar 1987 der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, Abteilung XVIII (Quelle: BstU 2853/87, Bl. 10 – aus: Viviane Czok-Gökkurt: „Zwischen Rebellion und Anpassung? Jazz in Dresden 1970 bis zur Wende“, Magisterarbeit von 2009): „In Absprache mit der Abteilung XIX wird der IM aus der Leitung der IG Jazz (Herv. M. B.) entsprechend des übergebenen Informationsbedarfs das persönliche und politische Vertrauensverhältnis ausbauen, um politische Grundhaltung, die Motivation, die Verbindungen sowie konkrete Äußerungen des (geschwärzt) herauszuarbeiten.“

Dieser Operativplan aus dem Jahre 1987 ist gegen ein Leitungsmitglied der IG Jazz gerichtet. In ihm ist eine Vielzahl von verschiedenartigen hinterlistigen und gemeinen Maßnahmen aufgeführt, die mit Hilfe des IM aus der IG-Jazz-Leitung, aber auch mit Hilfe von IMs aus dem Arbeits- (so IME „Werner Mitscherlich“ und IMS „Lohse“) und aus dem Wohnumfeld realisiert werden sollten.

Nicht die Gründung der IG Jazz am 18. März 1977 durch Jazzaktivisten um Frank W. Brauner, sondern vor allem die Übertragung der Nutzungsrechte für die tonnenförmigen Kellergewölbe unter der Ruine des Kurländer Palais an die IG Jazz gegen Ende 1979 war kulturpolitischen und sicherheitspolitischen Zielen der DDR geschuldet. Jazzinitiativen, -Interessengemeinschaften und -Klubs gab es immer wieder in der DDR jener Jahre, aber die IG Jazz war die erste in der DDR, so schreibt Viviane Czok-Gökkurt auf Seite 49 ihrer Magisterarbeit, die – „kulturpolitisch höchst interessant“ – eigene Räume zugebilligt bekam.

Viviane Czok-Gökkurt vermutet im Ergebnis ihrer Untersuchungen in ihrer bereits angeführten Magisterarbeit dazu folgendes: „Zum einen kann davon ausgegangen werden, dass die Schaffung eines zentralen Jazzkellers in Dresden von Staatsseite unterstützt wurde, da somit ein geeigneter Auftrittsort etwa für die Jam Sessions des Internationalen Dixieland Festivals entstand. Zum anderen fanden auf diese Weise die meisten Jazzkonzerte zentral an diesem Ort statt, wodurch eine Überwachung der Szene für das Ministerium für Staatssicherheit wesentlich einfacher werden sollte.“

Nochmals: Anderen Jazzinitiativen in der Region Dresden wurden trotz ihrer Bemühungen eigene Klub- bzw. Veranstaltungsräume nicht gewährt – weder 1962 der Arbeitsgemeinschaft Tanz/Jazz an der TU Dresden noch dem Klub Jazz & Sonstiges, der sich 1978 unabhängig von der Dresdner IG Jazz gegründet hatte und der die allerersten Konzerte mit westlichen Freejazzmusikern in Dresden und Umgebung veranstaltet hatte.

Am 20. November 1979 beschloss die Mitgliederversammlung der IG Jazz nach langen Debatten, die tonnenförmigen Gewölbekeller unter der Ruine des Kurländer Palais zum eigenen Domizil auszubauen, am 4. Januar 1980 besichtigten einige IG-Mitglieder die infrage kommenden Kellerräume. Am 13. März 1981 wurden die Gewölbe nach über 15000 unentgeltlichen Auf- und Ausbaustunden eingeweiht, die IG Jazz nahm ihre „eigenen“ zauberhaften Räume in Besitz.

Noch vor dem offiziellen Bezug 1981 fanden schon im Mai 1980 in der noch nicht fertig ausgebauten Tonne die ersten Sessions des Dixielandfestivals statt. Eines deutlicheren Fingerzeiges auf die eigentliche Motivation für die Einrichtung des Tonne-Kellerklubs bedarf es wohl nicht. Damit ist auch die Affinität der Ur- Tonne zum Dixieland erklärbar – eine Affinität, dieanfangs einige Jahre lang stark spürbar war, nicht ganz ohne Folgen. So trat deswegen der spätere Jazzfotograf Matthias Creutziger wieder aus der IG Jazz aus. Und IG-Jazz-Leitungsmitglieder kommentierten die Bestrebungen des freejazz-orientierten Klubs Jazz & Sonstiges mit bissigen Bemerkungen und torpedierten sie bei zentralen Kulturbundveranstaltungen.

Noch 1983 fühlten sich die IG-Jazz-Mitglieder durch zeitgenössischen Jazz irritiert. In einem Rückblick schrieb die Leitung der IG Jazz über jene Situation: „Zwar ist bei vielen Mitgliedern ein steigendes Interesse an zeitgenössischem Jazz spürbar, aber als einer den sauer erkämpften Flügel mit Maulschlüsseln, Schraubendrehern und ähnlichem präpariert, reißt uns der Faden. Das wirft uns in die Swing-Ära zurück.“

Im Laufe der Jahre jedoch verlor sich die Dixie-Affinität, mit den Reihen „Jazz today“ und „Jazz international“ zogen stilistisch weiter gefasste Musikformen in die Kellergewölbe ein.

Funktionierte anfangs der Tonne-Keller für die Stasi nahezu ideal als „Sammelort“, um komprimiert möglichst viele Informationen über ausländische Musiker, die zum Dixielandfestival spielten, sowie über Kontakte von DDR-Dixieland-Liebhabern zu ausländischen Musikern zu erlangen, erweiterte sich später der Fokus der Stasi auch auf politisch andersdenkende DDR-Jazzfans und deren Systemkritik – der weiter oben beschriebene „Operativplan“ aus dem Jahre 1987 gegen ein Leitungsmitglied ist ein Beispiel.

Diese Schwerpunktverlagerung war mit Konsequenzen verbunden. Ein Inoffizieller Mitarbeiter musste nun ein viel ausdifferenzierteres „Fachwissen“ haben, um unverdächtig zu bleiben. Reichte es innerhalb der Dixieland-Fankultur noch zur Not aus, mit Begriffen wie Ragtime, Boogie, Satchmo oder Titeln wie „Ice Cream“, „St. James Infirmary“ oder „St. Louis Blues“ umgehen zu können, musste man nun ein ungleich komplexeres Wissen vom Bebop über Freejazz bis Neuer Musik, von Schallplattenlabels bis zu Buchverlagen, von „off beat“, „pulse“ und „modal“, von zahllosen Schallplatten-Titeln bis zu Besetzungslisten von Bands drauf haben, um unauffällig bleibend mitreden zu können.

Mit Bezug auf verschiedene Dokumente der sogenannten Gauck- bzw. Birthler-Behörde (Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik – BstU) schreibt Viviane Czok-Gökkurt in ihrer Magisterarbeit:

„Relativ einfach war das Auskommen mit der zuständigen Konzert- und Gastspieldirektion möglicherweise auch, da dort in einer leitenden Funktion ein sogenannter IME, ein Inoffizieller Mitarbeiter mit Expertenstatus, tätig war. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Staatssicherheitsdienst die Arbeit der IG Jazz unterstützt hat, um die Jazz-Szene kompakt im Blick haben zu können. Durch ein vorgetäuschtes freundschaftliches Verhältnis zum Jazzclub waren die Geschehnisse in der Dresdner Musikwelt wesentlich leichter zu überblicken und zu durchschauen.

Aus Unterlagen der BStU geht zudem auch eindeutig hervor, dass zahlreiche Konzerte der Tonne von IM überwacht wurden. Hauptgrund waren offenbar häufiger die dort zahlreich stattfindenden Kontakte zwischen IG-Jazz-(Leitungs-) Mitgliedern und BRD-Bürgern. In einigen wenigen vorliegenden Fällen war die Tonne-Mitarbeit ausschlaggebend für eine Observation, in anderen waren es meist negative politisch-ideologische Bemerkungen im Arbeitsumfeld.“

Ein während der Wendezeit in der IG Jazz aktives Leitungsmitglied erinnert sich:

„Ganz sicher weiß ich, dass XY (Name dem Autor bekannt) dabei war. Ich habe zu einem Dixieland-Festival erlebt, wie offensichtliche Stasileute in der Tonne waren. Die hat XY in ein extra Zimmer geführt und danach sind sie wieder abgezogen. Ich vermutete, dass er sein Revier allein kontrollieren wollte. Hinter vorgehaltener Hand sagte man in der Tonne über ihn: Es ist gut, dass gerade er der Stasimann ist, der hält manchmal die Hand schützend über uns.“

Zwar fungierte der Gewölbekeller der IG Jazz für die Stasi als gutes Informationssammelrevier und einzelne, offenbar als IM angesetzte Jazzfreunde spitzelten systematisch gegen andere, gleichzeitig muss im Rückblick festgestellt werden, dass die damalige IG Jazz Dresden in den Jahren vor der politischen Wende als Jazzveranstalter durchaus zu den Nutznießern der Kultur- und Sicherheitspolitik der DDR zählte, keinesfalls zu den Benachteiligten oder gar Unterdrückten.

Ähnlich verhielt es sich mit der Scheune, die auch viel Jazz im Programm hatte. Der heutige Gitarrist Frank Fröhlich, ab 1988 bis über die Wende hauptamtlich Programmverantwortlicher in der damals offiziell „Zentraler Klub der Jugend und Sportler Martin Andersen Nexö“ benannten Scheune, erinnert sich (zitiert nach Czok-Gökkurts Magisterarbeit):

„Der Direktor hieß Gunter Neustadt, und Gunter war hauptamtlicher FDJ-Sekretär und ein ganz treuer Genosse, und ein Mann einer FDJ-Kreis- oder Bezirksleitung. Und der hatte aber begonnen sich innerlich davon zu verabschieden, das aber äußerlich nicht so verkündet. … Und es gehört zu der Erfolgsgeschichte der Scheune hinzu, dass dort quasi eine Vertrauensperson der Stasi drin saß, die aber innerlich schon ganz woanders war. Und konkret für meine Arbeit sah dass dann so aus, dass wir ein Programm machen konnten, wie wir wollten.“

Da hatten es andere Veranstalter schwerer. Wolfgang Zimmermann gehörte zu den zähesten Widerspenstigen der Dresdner Kulturszene, die sich mit Worten und Taten gegen dümmliche und indoktrinierte Kulturpraxis des Realsozialismus wehrten.

Als Veranstalter von vielen denkwürdigen Freejazz- und Punkkonzerten in Dresdner Kinos sowie der berühmten zweitägigen „Intermedia“ in Coswig bei Dresden (1. und 2. Juni 1985) zeigte er weithin sicht- und hörbar, wo der Hammer in der Kunst hängt, ermöglichte er den Künstlern, ihrerseits Zeichen zu setzen, und er machte mit seiner Unbeugsamkeit vielen Kulturinteressierten Mut. In seinem Buch „Die Akten Jazz und Show“, das mit vielen Fotos Matthias Creutzigers bebildert ist, beschreibt er seine Erfahrungen mit dem Veranstalten von systemkritischen Abenden und Konzerten und mit den Stasibespitzelungen.

Zimmermann wurde von elf mittlerweile enttarnten und mindestens neun weiteren bisher unenttarnten IMs bespitzelt.

Einer der Inoffiziellen Mitarbeiter war Sören „Egon“ Naumann (IMB „Michael Müller“), Fahrer, Techniker und teils auch Manager von Jazz- und Punkmusikern, die ebenfalls Objekte von „Michael Müllers“ beobachtender „Zersetzungslust“ waren.

Bild vergrößern Die „Bronxx“, hier noch Café Hilton, die erste Szene-Kneipe unmittelbar nach der Wende, gehörte einem Stasi-Mann (Foto: Sven Geise)

Die „Bronxx“, hier noch Café Hilton, die erste Szene-Kneipe unmittelbar nach der Wende, gehörte einem Stasi-Mann (Foto: Sven Geise)

Sören „Egon“ Naumann betrieb Mitte der 80er Jahre in der Dresdner Neustadt in seiner Wohnung in der Förstereistraße 2 eine inoffizielle Privatgalerie, in der neben Ausstellungen auch Lesungen und Parties stattfanden, über deren Verlauf und Hintergründe er danach als IMB „Michael Müller“ minutiös berichtete. Naumanns Spitzeleien galten vor allem Freejazz-Musikern und Kunstmalern.

Unmittelbar nach der Wende eröffnete er eines der ersten „Szene“-Cafés in Dresden, die „Bronxx“, zuvor Café Hilton. Die „Bronxx“ war die erste Touristenattraktion in Dresden für Westdeutsche, die den neuen Szene- und Freigeist-Geruch der Dresdner Neustadt bei einem Gläschen Soave oder Montepulciano und wilder Mansfeld-Kunst erspüren wollten – betrieben von einem Stasi-Mann. Übrigens: Analog dazu ist ähnlich pikant, dass mit „Sieben Tage im Oktober – Aufbruch in Dresden“ (Forum Verlag Leipzig 1990) auch das allererste Buch über die Wendeereignisse von einem Stasi-Mann (IM „Hans Reimann“) geschrieben worden war.

Wenn Viviane Czok-Gökkurt in ihrer Magisterarbeit die Dresdner Jazz-Szene zusammenfassend als „eine in ihrer Grundhaltung dem sozialistischen Alltag unerschrocken und kritisch gegenüberstehende, jedoch weniger aktiv politisch handelnde … Gemeinschaft“ beschreibt, trifft das die Verhältnisse gut. Im unmittelbaren Vorfeld und während der Wende im Oktober 1989 in Dresden gingen Proteste und Aktionen so gut wie nicht von Dresdner Jazzmusikern und auch nicht von der mittlerweile schon Tonne genannten IG Jazz aus, wohl aber von Berliner Rockern und Liedermachern, von Dresdner Schauspielern, Regisseuren und Kulturwissenschaftlern sowie vom Staatstheater Dresden, vom Kolloquium „Musik und Politik“ im Rahmen der 3. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik und – um eine Kulturbundgemeinschaft zu nennen – von der IG Populäre Musik Dresden.

„Couragiert“, wie Czok-Gökkurt schreibt, war das Auftreten der Jazzfreunde, die sich an den Protesten beteiligten, „in Anbetracht der noch immer herrschenden Diktatur dennoch.“

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